DER STANDARD, 03. Februar 2000
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Virtuelles Sit-in und digitaler Aufstand

Die Community siegt im Spielzeugkrieg


Thomas Keul

Im konfliktgeladenen Prozess der Kommerzialisierung des Web prallen die Interessen von politisierten Mitgliedern der Internet Community und profitorientierten E-Commerce-Betreibern immer wieder aufeinander. Dass sich dabei nicht notwendigerweise das größere Kapital durchsetzt, hat zuletzt der milliardenschwere Online-Spielzeughändler eToys zur Kenntnis nehmen müssen.

eToys war Ende November vorigen Jahres vor Gericht gezogen, um eine einstweilige Verfügung gegen die bekannte Schweizer Künstlergruppe Etoy (Goldene Nica 1996) zu erwirken. Begründung: Wegen der ähnlich lautenden Domain-Namen eToys.com (Spielzeug) und etoy.com (Kunst) landen potentielle Kunden immer wieder irrtümlich auf der Homepage der Künstler, eToys werde dadurch in seinen Geschäften geschädigt.

Ein Gericht in Los Angeles gab dem Antrag des Unternehmens statt, obwohl die Künstlergruppe und ihre Website schon wesentlich länger existierten als der Spielzeughändler.

Ein Pyrrhus-Sieg, wie sich postwendend herausstellte. Kaum war das Vorgehen des Online-Händlers publik geworden, solidarisierten sich Bürgerrechts- und Künstlergruppen weltweit mit Etoy. Der Internet-Prominente John Perry Barlow, Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation und Texter der Grateful Dead, schlug sich auf die Seite der Künstler und erklärte den Konflikt zum Testfall: Hier werde entschieden, ob sich die im Cyberspace entwickelten Umgangsformen gegen die traditionellen Geschäftspraktiken durchsetzen könnten oder nicht.

Zur Koordination des Widerstandes wurde unter der Adresse Toywars.com eine eigene Website eingerichtet. Die Aktivisten des Electronic Disturbance Theaters und der gefürchteten Gruppe RTMark riefen zu einem "virtual sit-in" gegen den Spielzeughändler auf: Ab dem 15. Dezember sollten die Server von eToys zehn Tage lang durch massenhafte, automatisierte Seitenaufrufe gezielt überlastet werden. Ziel der Aktion: Das Weihnachtsgeschäft stören und den Aktienkurs in den Keller schicken. eToys schlug zurück und ließ die Website, wo das Electronic Disturbance Theater beheimatet war, vom Provider sperren. Umsonst, wie sich herausstellte, denn schon Tags darauf wurde die Software fürs virtuelle Sit-in von zahlreichen Servern weltweit zum Download angeboten. Mitte Dezember befand sich die Aktie von eToys bereits deutlich im Sinkflug. Der Spielzeughändler begann Signale der Versöhnung in Richtung Etoy zu senden. Den Künstlern wurde angeboten, die Domain für 450.000 Dollar in Cash und Aktien an eToys zu verkaufen. Die Schweizer blieben unnachgiebig. Vorige Woche hat eToys schließlich die weiße Fahne geschwenkt. Man werde darauf drängen, dass die Künstler wieder unter ihrer angestammten Domain auftreten könnten, verlautete von seiten des Unternehmens, auch die Prozesskosten werde man übernehmen.

Die eToys-Aktie, bei Ausbruch der Feindseligkeiten noch um die 70 Dollar wert, notierte am 25. Jänner, dem Tag der Kapitulation, bei 19,3 Dollar - unterhalb des Ausgabepreises vom Mai vergangenen Jahres. John Perry Barlow: "Einige der Analysten haben anscheinend verstanden, dass mit der Internet Community gerechnet werden muss."

Weitere Informationen:
http://www.toywar.com
http://www.etoys.com
http://rtmark.com (siehe Bild unten)


© DER STANDARD, 3.Februar 2000
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