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Längst gehört der analoge Demonstrant mit
Friedenstauben-Button zur Retro-Fraktion. Der global vernetzte
Protest des 21. Jahrhunderts kommt in Pret-a-revolte-Mode daher. Und
ohne Online-Demos, Mailingslisten und Chatrooms ist er nicht mehr
denkbar. Das Zauberwort heißt Netzaktivismus.
Allerdings - das Wort Cyber-Aktivismus hat längst nicht mehr den
Glamour wie noch vor fünf Jahren. Der erste Lack ist ab. Es ist Zeit
geworden für neue Ideen: für Demo-TV, Kriegsfonds, kreatives
Hacking, Fakes und neue virtuelle Räume.
Termine, Rundbriefe, Debatten, Aktionen, Links zu Ortsgruppen,
Webforen und 100 Mailingslisten zu den unterschiedlichsten Themen
gibt's zum Beispiel unter http://www.attac.de/. Die Homepage der wohl
bekanntesten Organisation von Globalisierungskritikern ist eine
virtuelle Pinnwand für Aktivisten: Auf der rechten Seite führt ein
Link zu dem Aufruf zu bundesweiten Demonstrationen am Tag x ab 17
Uhr - also am Tag, an dem der Krieg beginnt. Ebenso wurde hier von
Attac als Mitorganisator zum ersten globalen Aktionstags für den
Frieden aufgerufen. Die weltweiten Massenproteste am 15. Februar
wären ohne das Internet kaum in der Form möglich gewesen.
Elf Tage nach der globalen Anti-Kriegsdemonstration, am 26.
Februar, riefen die beiden amerikanischen Online-Kampagnen "moveon" und "winwithoutwarus" zum virtuellen Protestmarsch auf
das weiße Haus auf: Kriegsgegner sollten mit E-Mails, Faxen und
Telefonanrufen Regierungsstellen und Abgeordnetenbüros überschwemmen
- und mehrere hundert Tausend taten dies. Bei einigen Senatoren
klingelte des Telefon ununterbrochen. Auch in Deutschland
berichteten viele Medien über diesen Protest - einige nannten es die
erste globale Online-Demonstration.
Im Juni 2001 riefen die Aktivisten der Gruppe "Kein
Mensch ist illeagal" zur Online-Demostration vor der
Lufthansa-Homepage auf. Das ständige Abrufen der Seite sollte den
Server für den normalen Kundenverkehr blockieren - als Protest gegen
die Abschiebungen, die die Lufthansa im Namen der Bundesrepublik
vornimmt. Abscheiben tut die Lufthansa natürlich immer noch, aber
zumindest berichteten die Medien über diese Online-Demo und somit
auch darüber, worauf die Aktivisten aufmerksam machen
wollten.
Vor
neun Jahren, in den frühen Tages des World Wide Web bemühten sich
Aktivisten, die zum Teil aus der Amsterdamer Hausbesetzerszene
kamen, darum, das ursprünglich rein akademische Internet mit all
seinen Möglichkeiten für alle Menschen zugänglich zu machen. Und so
boten sie in ihrer Netzplattform, der "Digitalen Stadt", kostenlose
E-Mail-Adressen und Serverplatz für eine eigene Homepages an,
richteten virtuelle Bibliotheken, Postämter, Plätze und Cafes ein.
Damit
schufen sie einen basisdemokratischen Raum für freie
Meinungsäußerung, wo sich die unterschiedlichsten Menschen in der
Virtualität völlig gleichberechtigt begegnen, informieren,
versammeln und vereinigen konnten. Mitte 1997 hatte die Digitale
Stadt bereits 50 0000 Einwohner. Doch je größer die kommerzielle
Konkurrenz im Internet wurde, mit ihren teils vielfältigeren,
besseren und schnelleren Dienstleistungen, desto härter wurde es für
das idealistische Projekt "Digitale Stadt". Auf dem Höhepunkt des
Dot.Com-Hypes mußte sie schließlich eingestellt werden. Doch der
Geist der Digitalen Stadt lebt weiter, in "De Waag", zu deutsch
"Die Waage". Software, wie sie heute dort entwickelt wird, benutzt
auch das deutsche Projekt wastun.org - eine virtuelle Plattform für Online-
und Offline-Aktivismus.
Eine
große Breitenwirkung bei unkritischen Zeitgenossen erzielen die Yesmen. Bei den
beiden Amerikanern handelt es sich in sofern um Netzaktivisten, als
sie die Seite gatt.org betreuen. Auf den ersten Blick täuschend
echt, wird dort die Homepage der Welthandelsorganisation WTO nachgeäfft, weil
die Gatt die Vorgängerorganisation der WTO war.
Im
Herbst 2000 verirrten sich Salzbuger Wirtschaftsanwälte auf die
Seite der Yesmen und baten darum, dass ein WTO-Vertreter auf einer
ihrer Konferenzen einen Vortrag halten möge. Was Andy Bichelbaum
unter dem Pseudonym Dr. Andreas Bichlbauer auch tat, allerdings
etwas anders und unverblümter, als man es von der WTO erwartet
hätte: Offen propagandierte er beispielsweise, dass man Wahlen
privatisieren solle, auf dass die Bürger ihr Stimmrecht verkaufen
könnten. Doch: Keiner der Wirtschaftsanwälte störte sich an diesem
Vortrag. |
Im Juli 2001 riefen die Aktivisten der Gruppe "Kein
Menschn ist illeagal" zur Online-Demostration vor der
Lufthansa-Homepage auf.
INTERVIEW mit der Amsterdamer Bürgerrechtlerin
Eveline Lubbers
INTERVIEW mit Frank Guerrero von Rtmark
ÜBERSICHT zu unserer
Sendereihe "Freiheit, Gleichheit, Geschwindigkeit"
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LINKS ZUM THEMA:
attac.de Die organisierten
Globalisierungs-Kritiker
etoy.com Die
Künstlergruppe verärgerte 1999 die Manager des neugegründeten
Internet-Spielzeugversands Etoys.
gatt.org Diese Seite
kopiert die Homepage der Welthandelsorganisation WTO.
Kein Mensch ist
illeagal Netzwerk gegen Abscheibung und Ausgrenzung
moveon.org Amerikanische
Online-Kampagne, die zum virtuellen Protestmarsch auf das weiße Haus
aufrief.
rtmark.com Aktivisten, die
andere Aktivisten unterstützen und beraten.
Waag-Society Hier lebt der Geist
der digitalen Stadt weiter.
wastun.org Virtuelle Plattform für
Online- und Offline-Aktivismus.
winwithoutwarus Auch diese
Online-Kampagne aus Amerika rief zum virtuellen Protestmarsch auf
das weiße Haus auf.
Yesmen Die beiden Amerikaner betreuen die
Seite gatt.org. |
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So
beispielsweise auch die Schweizer Künstlergruppe etoy: Deren URL http://www.etoy.com/
verärgerte 1999 die Manager des neugegründeten
Internet-Spielzeugversands Etoys, weil sie fürchteten, dass dadurch
potentielle Kunden verwirrt werden könnten. Äußerst aggressiv
bekämpfte Etoys die Künstler, bis schließlich eine globale
Gemeinschaft von Netz-Davids den Toywar ausrief - und den
Dotcom-Goliath zerstörte. Ein Beispiel für äußerst erfolgreichen
Netzaktivismus.
Auch
wenn sich der Wahnsinn eines Krieges wohl weder von Online- noch
Offline-Aktivismus verhindern läßt: Ob in virtuellen oder realen
Räumen, ob als virtuelle Sit-Ins, Fakes, Demo-TV oder Hacking - der
Netzaktivismus kämpft weiter, und vielleicht vielfältiger als jemals
zuvor. Im Gegensatz zu den Dotcoms ist er trotz aller Ernüchterungen
der letzen zehn Jahre nicht wie Seifenblase zerplatzt. Denn er hat
sich immer wieder neu erfunden. Und selbst wenn die Welt durch das
Internet nicht demokratischer geworden sein sollte: Noch nie war es
so einfach, wie in unseren vernetzten Zeiten, seinen Unmut zu äußern
und zumindest einen klitzekleinen Stein ins Rollen zu
bringen.
INTERVIEW mit der Amsterdamer Bürgerrechtlerin
Eveline Lubbers
INTERVIEW mit Frank Guerrero von Rtmark
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