From:Rhizome.com
Date: 3.3.98
By: Tilman Baumgaertel (Tilman_Baumgaertel@CompuServe.Com)
Subject: Software statt Brecheisen
Nicht nur das amerikanische Justizministerium beschaftigt sich zur Zeit mit Browsern. Auch Netzkunstler haben die Internet-Software zu einem Thema erklart, und bauen ihre eigenen Applikationen Anfang der siebziger Jahre machte der amerikanische Kunstler Gordon Matta-Clark mit Motorsage, Flex und Brechstange auf sich aufmerksam: Er durchlochterte die Wande von zum Abris vorgesehene Hauser oder sagte sie in der Mitte durch. Der ehemalige Architekt wollte mit seinen brachialen Aktionen darauf aufmerksam machen, was sich unter der "Benutzeroberflache" der Gebaude befand und was man als "User" nie zu sehen bekommt.
Der Londoner Kunstler Matthew Fuller hat sich Matta-Clark's Methode der "Dekonstruktion" zum Vorbild genommen. Auch er will zeigen, was sich unter der Oberflache verbirgt - allerdings nicht bei Hausern, sondern im Internet. Als Mitglied der dreikopfigen Kunstlergruppe I/O/D hat er Ende des letzten Jahres den Browser "The Web Stalker" vorgestellt, den man jetzt umsonst aus dem Internet herunterladen kann.
Der "The Web Stalker" (deutsch etwa: "Netzschlurfer") verwischt die Grenzen zwischen Kunst und Software: Einerseits ist er eindeutig ein Kunstprojekt. Andererseits ist er auch ein - mit Director geschriebenes - Programm, das auf PC und Mac einwandfrei funktioniert. Anders als der Netscape Navigator oder der Microsoft Internet Explorer will der "The Web Stalker" WWW-Seiten nicht so gut wie moglich darstellen - im Gegenteil: statt bunter Bilder und schon gestalteter Pages zeigt der "The Web Stalker", was hinter dieser Fassade steckt: Wahlweise kann sich der User den HTML-Code, den Fliestext oder die Links und Email-Adressen auf einer Page anzeigen lassen, oder eine Karte anlegen, die die geoffnete Site graphisch darstellt. Statt statischer "Pages", die das Aussehen von Buch- oder Zeitschriftenseiten imitieren, zeigt der "The Web Stalker" die Informationen aus dem Internet als den dynamischen Strom von Daten, der sie tatsachlich sind.
Der "The Web Stalker" von I/O/D ist das komplexeste Kunstprojekt, das sich mit dem Browser beschaftigt, das einzige ist es nicht. Wahrend zwischen den beiden Marktfuhrern Netscape und Microsoft ein "Browser War" tobt, und der Versuch von Microsoft, seinen "Internet Explorer" in das Windows-Betriebssystem zu integrieren, zu einem fur das amerikanische Justiztminsterium ist, haben auch andere Netzkunstler die Surf-Software zu einem Gegenstand kunstlerischer Kritik gemacht.
"Ich will nicht, das der User alles, was es im Netz gibt, mit den Augen eines amerikanischen Software-Unternehmens ansehen mus", sagt Yarif Alterfin, ein israelischer Kunstler, der in Amsterdam lebt und mehrere Online-Projekte realisiert hat. Weil er keine Lust hatte, seine eigenen Arbeiten von der Netscape-Software "eingerahmt" anzusehen, entwickelte er ein Plug-In, das die "Resource Files" des beliebten Browsers verandert. Und, hokuspokus, plotzlich ist der Browser schwarz-weis statt grau-blau, das Firmen-Logo ist verschwunden, und auch die Navigationsbuttons sehen plotzlich anders aus als gewohnt.
"Das Internet ist kein 'globales' Dorf, sondern ein Netzwerk, das eine Lokalitat mit einer anderen verbindet", findet Rieke Gerritzen, die im Auftrag der Amsterdamer Gesellschaft fur alte und neue Medien einen eigenen Browser fur einen Lesetisch (http://www.waag.org/maatschap/projects/readin/presentatie/concept_en.html) entwickelt hat - und der soll einen "lokalen Flair" haben. Denn die "Leestafel" soll die hollandische Cafehaus-Kultur der Vergangenheit in die Gegenwart uberfuhren: wie im 19. Jahrhundert kann man an ihm die Tagespresse oder ein Buch lesen, aber - an einem in die Tischplatte eingelassenen Monitor - auch im Internet surfen.
Der Browser fur diesen Lesetisch, den Gerritzen zusammen mit den Programmierern Rolf Pixley und Janine Huizenga entwickelt hat, basiert zwar auf dem Internet Explorer, hat aber nur dessen einfachsten Funktionen beibehalten, die auf grosen, bunten Icons erklart werden.
Denn der Lesetisch, zu dessen Vermarktung bereits eine eigene Firma namens Netural Objects (http://www.neturalobjects.com/) gegrundet worden ist, soll im Cafe der Gesellschaft fur alte und neue Medien gerade die Gaste ansprechen, die keine Erfahrung mit den Internet haben, sagt Mieke Gerritzen: "Browser mit vielen Features sind schon und gut, aber man sollte den Leuten nicht zu weit voraus sein. Wenn man das ganze sehr komplex macht, nur weil es technisch moglich ist, wird das meiste uberhaupt nicht genutzt und bringt die User nur durcheinander."
Statt kleiner Buttons und merkwurdiger Symbole hat sie ihren Browser darum mit Animationen versehen: Wenn man seine Email abruft, eilt erstmal ein Rudel Postboten uber den Bildschirm, wer die Newsgroups anklickt, bekommt erstmal ein Gewirr aus Buchstaben und Worten serviert.
Auch der "Internet Digester" (http://remote.aec.at/ID/) (Internet-Verdauer) von Jaanis Garancs prasentiert einen eigenen Browser - und den mus der User noch nicht einmal herunterladen. Garancs hat eine Java-Applikation geschrieben, die den Browser des Betrachters von selbst modifiziert - freilich nur auf Zeit. Dieses Projekt funktioniert bisher nur mit der neusten Version des Internet Explorer.
Wer in den neuen Browser ein Suchwort eingibt, bekommt eine Reihe von Seiten geliefert - und zwar gleichzeitig. Um dem eiligen Internet-Surfer Zeit zu sparen, montiert das Programm aus mehreren Seiten eine neue Page - ein ironischer Kommentar zu dem Informations-Uberangebot im Netz.
Keiner dieser Browser will die existierende, kommerzielle Surf-Software ernsthaft ersetzten. Aber jedes dieser Projekte thematisiert die technischen Beschrankungen, die die die Programmierer der existentierenden Browser den Usern trotz immer umfangreicherer Features aufburden. "Beim Interface-Design der Browser werden die User vergessen", findet Mieke Gerritzen, die Designerin der "Leestafel"-Software. "Die meisten Programme sehen aus wie Flowcharts. Das ist einfach langweilig."
I/O/D: "The Web Stalker" http://www.backspace.org/iod/
Yarif Alterfin: Pathwalker http://www.alterfin.com/PathWalker
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