Der Bund
Publikations-Datum: 19991224
Seite: Z2
Zeitungs-Nummer: 301

Der kleine Bund

Geldkultur gegen Netzkultur

Digitales Kunstschaffen der etoy wird von einem amerikanischen Spielwarenkonzern bedroht.


Autor: MICHAEL PFISTER

In keinem anderen Jahrzehnt unserer industriellen Geschichte haben sich grössere Chancen eröffnet als an der Pforte von der analogen zur digitalen Welt. Die Schlüsselkulturtechnik an der Schwelle zum dritten Jahrtausend ist die Interaktivität, und letztlich ist das Internet jener digitale Strom, in dem alles zusammenfliesst, schreibt Hannes Leopoldseder in seinem Vorwort zum Prix Ars Electronica 99.

Tagtäglich demonstrieren einzelne Menschen im digitalen Aufbruch das pionierhafte Vordringen in die digitale Welt. Mit den Chancen, mit den Risiken. Digitale Kultur ist geprägt durch das Konzept der Mixed Reality. Jung sein in der digitalen Kultur heisst, sich ständig vermarkten müssen und wissen, wie man das machen muss. Sich wahnsinnig gut mit bestimmten Medienwirksamkeiten auskennen, um damit operieren zu können.

Digitale Kultur ist auch geprägt durch die zur Selbstverständlichkeit gewordene Realität der Vernetzung, durch neue Formen digitalen Entertainments und durch das Sampling als kulturelle Praxis.

Digitale Dämmerung

1996 haben etoy für «digital hijack» die goldene Nica des Prix Ars Electronica in der Kategorie «Internet Kunst» erhalten. etoy ist eine internationale Künstlergruppe, und ihr Name ist Programm: E für elektronisch, Toy für die spielerische Ironie und Com für den Kommerz, an dem sich die Projekte von etoy reiben.

Seit 1995 versucht etoy, mit so genannten Reality Hacks den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Virtualität zu verwischen. Letztes Jahr startete etoy den Verkauf von Aktien, deren Gegenwert in virtuellen Kunstwerken der in der Schweiz gegründeten Gruppe besteht. etoy baut an einem Image als Unternehmen und karikiert dieses auch, indem es nichts anderes als sich selber produziert.

Domainnamenkonflikt

Ende des letzten Monats hatte ein Gericht in Los Angeles eine einstweilige Verfügung ausgesprochen, die es etoy.com verbietet, weiterhin den Domainnamen zu führen. Die internationale Künstlergruppe etoy hatte aus Angst vor hohen Geldstrafen nachgegeben und führt ihre Website jetzt als abgespeckte Exilseite mit der numerischen Adresse weiter.

Aus Solidarität hatten sich einige Initiativen im Internet formiert, um mit Aktionen den Kampf von etoy gegen den amerikanischen Spielehändler eToys zu unterstützen, was bis hin zu Vorschlägen reichte, die Firma finanziell zu ruinieren oder die Website zu cracken. Die Unterstützer von etoy.com sehen in dem Vorgehen von eToys.com nicht nur einen normalen Streit über Domainnamen, sondern einen exemplarischen Fall, der zeige, wie weit bereits das Internet von den grossen Firmen beherrscht werde.

«Das ist der Punkt», so Internetexperte John Perry Barlow gegenüber «Wired News», «an dem die Menschen zu erkennen beginnen, dass es einen Unterschied zwischen der Internetindustrie und der Internet Community gibt, und die Internet Community muss sich zusammenschliessen und sich mit einer Stimme äussern. Hier kommen wirklich die Grenzen zwischen den traditionellen Geschäftspraktiken und den Praktiken ins Spiel, die im Cyberspace entstanden sind.

Es geht hier wirklich um die Entscheidung, ob wir den Cyberspace zu einem besseren Ort machen wollen. Ich glaube, es ist nicht idealistisch zu glauben, dass wir die Chance haben, neu zu beginnen, wenn wir nicht aufgeben.» Allerdings wendet sich Barlow gegen mögliche Crackversuche von eToys.com, weil das langfristig nur kontraproduktiv wäre.

Schliessung nützt nichts

etoy.com protestiert in einer Mitteilung gegen die Schliessung des Mailsystems durch Network Solutions. Der Gerichtsentscheid habe lediglich untersagt, weiterhin die Website mit dem Domainnamen www.etoy.com zu benutzen, aber nicht die Mailadressen zu blockieren. etoy.com sieht darin den Versuch, den Widerstand durch das Abschneiden der Kommunikation der Gruppe mit ihren Unterstützern zu brechen, und bezeichnet dies «als Diebstahl eines digitalen Territoriums, amerikanischen Imperialismus, kommerzielle Vernichtung und Ausübung von Zwang, wie dies im 19. Jahrhundert gemacht wurde.» Network Solutions und eToys.com werden «höflich» aufgefordert, die E-Mail-Adressen wieder einzurichten. etoy will ihr Kunstprodukt weiterentwickeln und ist auf den Abwehrkampf gut vorbereitet. «eToys hat sich verrechnet. Wir spielen das Spiel mit, und eToys ist eigentlich ein Traumpartner für uns. Sie lassen uns bluten, bis wir tot sind. Aber in etoy fliesst kein Blut, wir werden nicht bluten», teilt etoy mit. Kunst gegen Kommerz, Netzkultur gegen Geldkultur: Keine Kombination könnte das ironische Spiel von etoy besser auf den Punkt bringen.

Den etoy Share-Values fehlte bis anhin die Realität, doch nun hat die Kunst von etoy in der Gesellschaft eine riesige Welle ausgelöst und erhält nun doppelte Kraft. Der Verkauf der etoy-Aktien findet jetzt offshore statt und erfreut sich nie gesehener Beliebtheit.

Prix Ars Electronica

Seit 1987 ist der Prix Ars Electronica als Wettbewerb für Cyberkunst innerhalb des Ars Electronica Festivals in Linz internationale Plattform für das aktuelle Schaffen in den Bereichen Kunst, Wissenschaft und Forschung wie auch Entertainment.

In seinen Ergebnissen repräsentiert der Prix Ars Electronica alljährlich den aktuellen Stand digitaler Mediengestaltung abseits industrieller Normen und dokumentiert den tief greifenden kulturellen Wandel, den die digitalen Medien in den letzten Jahrzehnten dieses Millenniums hervorgerufen haben.

Die Cyberkünstler unserer Tage verstehen den Computer längst nicht mehr als Werkzeug, sondern als umfassendes Medium, mit dem sie sich kompetent und kreativ auseinandersetzen und den Betrachter/Benutzer in den Dialog miteinbeziehen und ihn zur Anwendung der Schlüsselkulturtechnik unserer Tage, der Interaktivität, auffordern.

Die aktuelle Cyberkunst thematisiert verstärkt tiefgreifende Fragestellungen einer Gesellschaft im Wandel.

Website etoy: http://146.228.204.72:8080/

www.toywar.com

Website Prix Ars Electronica: www.prixars.at

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